The WanderingSoul's profile

Erinnerungen an Wien (German Writing)

Erinnerungen an Wien
(Die verlorene Zeit / Von der Nichtigkeit)
[German Writing]
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Fragmente)
Ich werde atmen, atmen bis ich nichts mehr außer Einsamkeit kenne. Und dann, wenn ich selbst zur Einsamkeit geworden bin, werde ich nichts mehr sein.
[2018/01/01]
Prolog
Um einander zu verstehen, müssten wir sein, wer wir nicht sind. Doch wären wir jener andere, würden wir ebenso wenig verstehen, sind wir uns doch selbst das größte aller Rätsel. Ich lausche angestrengt in mich hinein, doch alles, was ich dabei erfahre, ist nur das leere Echo meines eigenen Horchens. Ich bleibe mir ebenso fremd, wie ich mir innig bin. Als Fremder gehe ich ein, und aus; in der Welt, wie in mir selbst.
I | Träume
Unter uns, ein Meer aus Lichtern. Darüber, die Abenddämmerung, nicht weniger weit. Es ist, als wäre es vertauscht, das tiefe, dunkle Blau zu unseren Köpfen, das Licht vor uns zu Füßen. Dazu, zu unseren Rücken und hinter den Hügeln, die letzten Spuren des Sonnenuntergangs. Die Stadt, scheinbar endlos, von hier mindestens bis hin zum Horizont. Spiegelungen der Straßenlaternen im Fluss, ein Schiff, das lautlos und bestimmt unter weiten Brücken hindurch in die Ferne fährt. Wir flüstern, und nach und nach, noch ganz zögerlich, beginnen in den Baumwipfeln um uns herum die Vögel ihr allabendliches Zwitschern. Ganz anders klingt es, als in der Morgendämmerung. Schließlich schweigen wir, nur die Vögel tun es nicht. Nicht, weil wir uns jetzt nichts mehr zu sagen hätten, sondern weil es Stille ist, die wir uns sagen möchten. Schweigen ist niemals nichts, im Gegenteil, es ist ungemein viel. Und das, was vielleicht zwischen zwei Menschen sein kann, verlangt doch eigentlich ohnehin keiner Worte, noch dass es überhaupt welche dafür geben könnte. Minuten vergehen. Dann gehen wir zurück, der Moment der Stille, und erster Innigkeit, fällt von uns ab, wir verfallen ins Laufen. Seite an Seite den Weg hinunter, dahinter hinaus auf den großen Parkplatz. Dunkelheit in den Bäumen, dazwischen die fernen Lichter, die durch kahles Baumgerippe vor Nachthimmel dringen. Ganz in der Mitte, ein hell erleuchteter Bus. Du nimmst mich an den Händen, ziehst mich lachend auf den Parkplatz und wir beginnen uns schneller und schneller umeinander im Kreis zu drehen. Immer schneller und schneller, bis wir vor Lachen und Schwindel kaum noch können. Hand in Hand hinein in den Bus, ein Lächeln, das in den müden Augen des Busfahrers für einen winzigen, kaum wahrnehmbaren Moment aufblitzt. Wir sitzen ganz vorne im sonst leeren Bus. Und Deine Hand, Deine Hand habe ich noch immer in der meinen. Du scheinst es nicht zu bemerken und ich bin froh darum, hätte sonst Angst Du könntest sie wieder zurückziehen, so als wäre es unbedacht oder gar ein Fehler gewesen. In der Dunkelheit geht es, Serpentine für Serpentine, hinab, immer tiefer und tiefer in die Stadt hinein, die uns vor wenigen Minuten zwar riesig, und doch wie eine Miniatur vorgekommen war. Mit Deiner Hand in meiner, den Blick nach draußen, ist es für diesen Moment eines Lebens vollkommen; und ich möchte nirgendwo sonst sein. Ganz ohne Worte sehen wir beide aus dem Fenster. Ich glaube, wir verlieben uns.
II | Sehnsucht
Früh am Morgen nehme ich in der Dunkelheit die Elektrische in Richtung Norden aus der Stadt. Selbst die Dämmerung scheint heute verschlafen zu haben, bleibt viel länger zurück, als ich es angenommen hatte. Doch bin ich froh darum, sind doch die wenigen, die wir bereits unterwegs sind, Unbekannte darin. Schatten vor sich selbst, und Schatten vor den anderen. Ich mag sie, diese letzten Minuten der Nacht, eigentlich weder Nacht noch Tag, ein unbestimmtes Dazwischen, geben sie mir doch Raum. Um mich herum scheint man es eilig zu haben, ein jeder ein festes Ziel vor Augen, das es zu erreichen gilt. Ich selbst bewege mich mit leichter Verlorenheit durch sie hindurch, stelle es mir beinahe wie einen unsichtbaren Tanz vor, eine Choreographie, bei der ich möglichst berührungslos durch sie, und alles andere gleite. Gerade so, dass ich niemandem zu nahekomme, als wäre ich eigentlich gar nicht da und es könnte sich später einmal gar niemand mehr an mich erinnern. An mich, der ich doch eigentlich inmitten der Anderen war. An der vorletzten Station steige ich aus, wärme mich noch für einen Moment auf und trete dann hinaus. So weit draußen liegt die ganze Stadt nun still und kalt auf meiner Haut, und ich vergrabe meine Hände tief in meinem Mantel. Ich bin ebenso still, doch aufmerksam für alles Beständige um mich herum. Ein wenig ehrfurchtsvoll betrachte ich die großen, herrschaftlichen Häuser links und rechts der Straße, durch die ich spaziere. Ein jedes anders, ein jedes mit Facetten, die mir nun erneut, oder manchmal auch zum ersten Mal ins Auge fallen. Mir ist bewusst, dass ich wohl nie eines dieser Häuser bewohnen, noch überhaupt das nötige Innere für ein solches Leben aufweisen werde. Aber es hindert mich nicht, spornt mich vielleicht geradezu an, mich bei jedem dieser Fenster zu fragen, wer wohl darin leben mag. Und ich verspüre Sehnsucht danach zu wissen, wie es wohl gewesen wäre, in einem dieser Zimmer gelebt zu haben. Meine Jugend, und überhaupt ein übliches Leben darin verbracht zu haben. Eines, bei dem man einst mit der ersten Jugendliebe ein wenig zaghaft, fast verschämt, auf einem weiten Bett vor großen Fenstern beieinander gelegen hätte. Novemberregen, der leise davor fällt. Ein Blick hinaus in den etwas verwilderten Garten, alte Bäume dahinter, denen nur eine alte Mauer etwas Einhalt gebietet. Sie, und die Herbststürme, die Jahr für Jahr an ihnen zerren, sodass ich immer ein wenig um sie fürchten müsste. Eine Träumerei, der ich mich hingebe, damit ich mich jetzt nicht an einsame Reisen erinnern muss, in denen ich mich genau das fragte, während unzählige Leben hinter hellen Fenstern vor dunkelblauen Nachthimmeln stumm an mir vorüberzogen. Als wäre ich selbst immer nur Gast im Leben anderer gewesen; und es bliebe von meiner Jugend, und überhaupt meinem Leben, nur noch diese Erinnerung. Und doch sage ich mir jetzt, dass ich all das nicht wichtiger nehmen sollte, als es das in Wirklichkeit ist. Dass ich das Menschliche menschliches sein lassen sollte, ein wenig abseits, ebenso nur eine Träumerei. Nicht mehr, aber vielleicht auch nicht weniger. Im verlassenen Park steige ich zwischen großen, kahlen Buchen den Hügel hinauf. Mein Atem wirft kleine Wolken in die kalte Morgenluft. Ich liebe sie, die Kälte, besonders in diesen Momenten. Es ist eine Klarheit in ihr, die mich ungewohnt lebendig fühlen lässt. Es gibt Momente, da genieße ich selbst das Frieren, den leichten Schmerz auf meiner Haut. Immer dann scheine ich alles zu spüren, alles um mich herum scheint endlich einmal Wirklichkeit und nur Mein zu sein. Am höchsten Punkt halte ich inne, die Stadt liegt nun vor und unter mir, darüber der Himmel. Grau in Grau. Ich bin froh darüber hier draußen, und, so früh am Morgen, noch niemandem begegnet zu sein. Ich habe nichts weiter vor heute, genüge mich schlicht an meiner Verlorenheit. Es gibt niemanden, an den ich denken könnte. Selbst die wenigen, die ich einmal zu kennen glaubte, sind mir fern. Selbst meine Erinnerungen sind mir heute fremd. Auch wenn ich weiß, dass sie irgendwo sind, da sein müssen – gerade hier, gerade heute an diesem Tag – gelingt es mir doch nicht sie auferstehen zu lassen. Es kommt mir ein wenig so vor, als müssen sie einem anderen gehören, einem anderen widerfahren sein. Einem anderen, als jenem Menschen, der ich heute bin und stumm an diesem Ort stehe und verloren aus mir hinausblicke. Mich erfüllt Traurigkeit, doch ist es eine Traurigkeit von der ich weiß, dass ich sie, und diesen Moment, später einmal vermissen werde. Es gibt Tränen, die ich mir nur deshalb wünsche.

Zurück in den Außenbezirken der Stadt, der Park von Tor und Mauer eingerahmt, muss ich nicht lange auf einen Bus warten. Hier, an seiner Endhaltestelle und zugleich ersten Station, steige ich als einziger Fahrgast ein. Den Fahrer grüße ich knapp, wie ich es mir allen einsamen öffentlichen Angestellten gegenüber angewöhnt habe. Eine kleine Geste, ein Moment des Erkennens; auch wenn es unter Einsamen nichts Gemeinsames geben kann. Aus dem Fenster sehe ich hinaus, wieder ziehen Anwesen vor meinen Augen vorüber, die anfangs noch ebenso herrschaftlich wie einsam wirken, später, je tiefer wir in die Stadt vordringen, immer gewöhnlicher, zerrissener wirken. Ihren Anblick werde ich nicht leid, gleich wie oft ich hier bereits entlanggefahren war. Vielleicht, weil ich selbst ein jedes Mal ein klein wenig ein anderer bin, mir dieses ewige Wiedererkennen dabei hilft, mich an mich selbst zu erinnern; und dass ich eine Vergangenheit habe, gleich der Häuser. Als ich aussteige, und auf eine der Bahnen warte, der Verkehr und die ebenfalls wartenden Gesichter um mich herum, lüftet sich die graue Wolkendecke. Ich blicke hinauf, sehe tiefes Blau zwischen den Wolken, und die Sonne berührt mein Gesicht. Ich spüre die zaghafte Frühlingswärme, und doch noch immer die Kälte auf meiner Haut. Es ist einer der seltenen Momente, in denen ich das Gefühl habe wirklich zu leben, in dem ich hier, und nur hier im Jetzt bin. Ich bin nicht aufmerksam für die Menschen um mich herum; aber für alles andere, das ich sehe und auf meiner Haut fühle. Ich nehme wahr, was ein Teil von mir ist. Ich sehe mich, und das Äußere. Und ich bin zeitlos, sitze still hier, während sich die Welt um mich bewegt, immer weiter und weiter. Ich bin zwischen dem Einen und Anderen, nirgendwo, und doch Zuhause. Ich möchte am liebsten für immer so sitzen und weiß doch, dass es kein für immer gibt und nichts im Leben je genug ist. Doch noch bin ich Gegenwart; und ich versuche den Moment festzuhalten, wie das stille Andenken an einen Traum, an den ich mich nach meinem Aufwachen ganz verschlafen erinnere. Alles bewegt sich, und alles steht still. Alles ist nichtig, und alles ist sich selbst genug.

Wir alle, die wir träumen, erleiden irgendwann Schiffbruch; kein Traum der Welt vermag das Leben.
III | Erinnerung
Es ist seltsam, dass ich hier, am anderen Ende der Welt, um mich herum die größte Stille, die ich je erfuhr, daran denken muss. Ich sehe keinen einzigen Menschen, keine Straße, kein Haus, nicht einmal etwas anderes als Wolken am Himmel. Ich sehe nichts, außer mir selbst, und der Steinwüste. Und doch erinnere ich mich jetzt, stärker als je zuvor, an jene Februarmorgen, die ich in Wien verbrachte. Etwas in mir verlangt danach, hat die Vorstellung von mir selbst, diesen Ort meiner Vergangenheit zu erkunden. Ich weiß nicht, ob in vagen Erinnerungen, oder der Wirklichkeit. Ich sehe mich still und verloren auf Parkbänken sitzen, aus den großen Fenstern der Elektrischen auf alles flüchtig Vorbeiziehende sehen. Mich als Fremder durch Fremde bewegen, in starre Gesichter blicken, die mir nichts sagen. Etwas in ihnen, wie auch in allem anderen, suchen, von dem ich nicht einmal weiß, was es ist, noch ob ich es überhaupt erkennen würde, wenn es tatsächlich einmal vor mir läge. Nach einer Weile, wenn nicht schon immer, mir selbst fremd geworden zu sein. Ich gehe ein und aus, in der Welt, wie in mir selbst. Manchmal im Leben wurde ich erkannt, doch wie, fragte ich mich dann immer, wenn ich mir doch selbst unbekannt geblieben bin. Ich, der ich doch nichts weiter bin, als ein auf Lebzeiten verpflichteter Schauspieler. Ich, der ich doch damit in jedem Moment nur das Äußerste meines Inneresten bin, und bleibe. Ein Schauspieler, der zwar schauspielern, aber nie ein anderer, noch sich selbst sein darf. Ich spiele, wieder und wieder nach einem Drehbuch voller Handlungen, das sich mir erst offenbart, wenn der Vorhang fällt. Und weil auf immer unbekannt bleibt, ob ich meisterte oder scheiterte, es weder Urteil noch Antwort darin gibt, ist mir manchmal zumute, als wäre ich längst taub, könnte das Leben nicht mehr hören.

Ich begreife, dass mir vielleicht mein Inneres bekannt ist, nicht aber mein Äußeres. Mein Äußere, das ich verteilte, auf Augenblicke und die wenigen Menschen, die ich einmal kannte. Doch selbst mühevoll zusammengefügt, würden all die Bruchstücke irgendetwas ergeben. Irgendjemandem, der in seiner Unvollständigkeit und Gestalt nicht mehr oder weniger lächerlich wäre, als ich selbst. Und doch frage ich mich manchmal, was mich davon abhält, mein Inneres in ein anderes Äußeres zu versetzen. Auf dass ich mich, jetzt als ein anderer, noch einmal selbst erfinden, und glücklich werden könnte.

Ich las einmal, dass das Maß für Einsamkeit der Abstand dieser beiden Schichten sei. Der Abstand vom Äußeren, zum Inneren. Zwischen mir, und den Kleidern, die ich trage; und vielleicht auch ein wenig zwischen dem, was ich fühle, und dem, was ich sehe. Doch eine Einheit, die diesen Abstand quantifizieren vermag, gibt es nicht, müsste sie sich doch mindestens über die Orte unseres Lebens, die Zeit und unsere Erinnerungen erstrecken. Vielleicht aber sind wir es selbst, das Maß der Einsamkeit. Dass unser Leben kein Leben ist, sondern nur ihr Ausdruck. Wir, die wir nicht atmen, nicht fühlen, sondern nichts weiter als eine Einheit sind, die wir nicht begreifen, können wir doch unmöglich über uns selbst hinaus.
IV | Verlorenheit
Ich sitze in der Bahn, und sehe hinaus. Ich sage nichts, frage nichts. Es ist mir gleich, wohin sie fährt; und ich erinnere mich auch nicht an den Ort, an dem ich zugestiegen war. Ich will dahinfahren, bis ich alles vergessen habe. Alles lastet auf mir. Dass Erinnerungen wiegen können. Vorbeiziehendes. Die Stiegen einer Station, die hinauf in die Stadt führen, gesäumt von grünen und weißen Kacheln, ein Geländer aus Holz. Dann, steinerne Brücken über dem Fluss, Busse voller Menschen, Radfahrer, hastende Spaziergänger, ein Regenschirm, den der Wind davonträgt. Darüber grauer Himmel, der sich in gläsernen Bürofassaden widerspiegelt. Kurz darauf, ein alter Flussarm, träges Wasser darin und ein einsamer Schwan. Etwas ergreift mich, zieht mich hinab und ich sinke immer tiefer und tiefer in mich hinein. Meine Seele, das Meer. Alles ist dumpf. Ich sehe stumm aus mir hinaus, nichts von alledem sagt mir etwas, nichts davon erkenne ich wieder. Niemand nimmt Notiz von mir, und ich fühle mich augenblicklich so verloren, dass nicht viel fehlt und ich meinen Nächsten um eine Berührung bitten würde. Eine Berührung mit dem Wirklichen. Ich atme ein, und aus, und spüre stumpf den Schlag meines eigenen Herzens. Manchmal, wenn es für einen Moment aussetzt, frage ich mich, ob das nun das Ende ist. Ich weiß nicht, ob ich darüber traurig wäre, vielleicht wäre es mir gleich. Wenn es denken könnte, würde es zu schlagen aufhören, habe ich einmal gelesen. Ich bereite mich vor, versuche zu mir selbst vorzudringen, mir Kommandos zuzustellen, doch sie verklingen lange ungehört, bis ich schließlich aufzustehen vermag. Was ich nicht weiß, ist, ob ich wirklich nicht konnte oder nur nicht wollte, weil beides verschwommen, vielleicht längst ein und dasselbe ist. Der Unwille, und das Unvermögen. Ich zwänge mich zwischen anderer hindurch, hinaus auf den Bahnsteig, bin umgeben von umhereilenden Menschen, bin umgeben vom Leben. Und ich bin froh darüber, für wenige Sekunden, doch sehne ich mich schon kurz darauf wieder zurück. Ich will mich verlieren, in alledem, bis ich weder an Gestern noch Morgen denken kann. Ich will in mir selbst verlorengehen, und aufhören zu sein.
V | Frühling
Aus dem Hausflur trete ich, hinaus auf die Straße, grüße eine alte Dame, deren Namen ich nicht weiß und sie doch längst vom Sehen kenne, Nachbarn wie wir sind. Es ist Vormittag, die Türe fällt sachte hinter mir ins Schloss. Trotzdem schrecke ich auf, denn jetzt verspüre ich es als Gewissheit: es ist Frühling. Es sind nicht einmal die Vögel, die erst seit kurzem ihr morgendliches Zwitschern wieder aufgenommen und von Tag zu Tag gesteigert haben, nicht das Blau am Himmel, das auf einmal tiefer, so viel tiefer scheint, nicht die Sonne hoch oben zwischen den Dächern, deren Licht, wenn es doch einmal bis zu mir hinunter dringt, fast schon wärmt und auch nicht der Geruch, der neuerdings im lauen Wind durch die Straßen zieht. Nein, es liegt in der Luft. Mit einer mir sonst so fremden Gewissheit, kann ich es spüren; als Tatsache, nicht Vermutung. Und jetzt erkenne ich, dass ich es eigentlich bereits seit Tagen wusste, aber nur nicht wahrhaben wollte. Als wäre Winter in mir; und wollte ich nicht, dass er und der Winterwind schon aus mir weicht. Vielleicht, weil ich Angst habe, abgehängt zu werden. Jetzt, wo doch alles um mich herum seinen Gang genommen hat, nur ich stehengeblieben scheine. Dass ich nicht für einen weiteren Frühling bereit bin, oder, bestenfalls, eben nur noch nicht. Doch ich spüre auch etwas anderes, nichts Äußeres, etwas Innigeres, als es ein Wind oder Sonnenstrahlen je sein könnten. Auf einer Parkbank sitzend, beginne ich still zu weinen. Ich weine lautlos, ich weiß nicht wieso, vielleicht einfach aus der Einsamkeit meiner ganzen Seele heraus, so als wäre das Grund genug. Es dringt aus mir hinaus, und meine Hände versuchen hilflos und verschämt mein nasses Gesicht zu trocknen. Ich habe die Kontrolle über mich verloren, weiß nur nicht an wen, wenn nicht an mich selbst. Nach einer Weile findet es ein Ende, nicht, weil ich das wollte, sondern weil es genug war. Es gelingt mir meine Gesichtszüge zurechtzurücken, zu ordnen, wie ich das sonst mit meinen Kleidern tue, nachdem ich aufgestanden bin oder gerade das Haus verlassen möchte. Doch etwas hallt nach in mir, weit hinter meinem Gesicht. Fast wie ein Traum nach dem Erwachen, fühlt es sich an. Unwirklich, und doch nicht zu leugnen. Ein Schatten, mein eigener Schatten, der sich gleichsam und still über mich und meine Schultern beugt. Ich, der ich mich hinter meinen Augen selbst sehe. Das allein genügt, und die Sonne verschattet sich mir.

Nein, kein Frühling. Winterwind, der in meinem Herzen bläst.

2018/10/16 - 2018/10/26, Die verlorene Zeit
Erinnerungen an Wien (German Writing)
Published:

Erinnerungen an Wien (German Writing)

Published: